Louis Majorelle oder Emile Gallé? Scheiden sich hier die Geister der Jugendstil-Fangemeinde? Beide waren im lothringischen Nancy tätig, wo die Künste im späten 19. Jahrhundert in kaum vergleichbarer Weise erblühten – weitab von der Metropole Paris. Die Hauptstadt Lothringens war am Ende des 18. Jahrhunderts zur Provinzstadt geworden. Nach 1871 wurde der nördliche Landesteil vom Deutschen Reich annektiert. Nancy geriet ins Abseits. Diese Randlage trug entscheidend dazu bei, dass gerade hier eine eigenständige, der Region und ihren Traditionen verpflichtete Kunst entstand. Motor dieser Entwicklung hin zum spezifisch lothringischen Art-Nouveau war Emile Gallé, der als Glaskünstler Weltruhm erlangte. Neben seinen Glasschöpfungen, deren Motive er bald fast ausschließlich in der heimischen Landschaft, der heimischen Flora fand, schuf er auch Möbel. Er ließ sich hierfür von denselben Quellen inspirieren – unfasslich, seine detailversessenen Adaptionen von Naturformen, die sowohl den Aufbau, als auch die feinen, bildhaften Marketerien seiner Möbel prägen. Louis Majorelle basierte in allem zunächst auf Gallé. Doch es gelang ihm, sich von seinem Vorbild rasch zu emanzipieren. Fasziniert hat mich dabei immer, dass er sich bei diesem Prozess nicht nur an Zeitgenössischem, sondern auch an französischen Möbeln des 18. Jahrhunderts orientierte und beide Formwelten – Gallé und das Rokoko – gleichsam linear abstrahierte. Gallé ist der Meister des Art-Nouveau-Naturalismus, Majorelle der Meister der Art-Nouveau-Lineatur. Seine kraftvollen, dynamischen Aufbauten betont er – auch das in bester französischer Manier – mit opulenten feuervergoldeten Bronzeapplikationen. Hier bleibt Gallé mehr dem Holz verpflichtet und trumpft mit köstlichen Nuancierungen auf … Majorelle oder Gallé? Die reichen und zugleich exquisiten Bestände der Sammlung Neess machen eines klar: Das eine geht nicht ohne das andere. Sie ergänzen sich, sind zwei Seiten einer Medaille, der École de Nancy.